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Der Enthaltsamkeitsverein zu Wüsten

Offener Brief von Pastor Köhler in den Vaterländischen Blättern

"In der Gemeinde Wüsten besteht seit August 1846 ein Entsagungs-Verein. Derselbe ward vom Unterzeichneten mit 3 Gemeindegliedern (der Familie Meyerjohann Unterwüsten Nr.4) gegründet. Am nächsten Sonntage, den 23. August, predigte der Unterzeichnete über das Leib und Seele verderbende Brannteweinsgift, verlas sodann vor dem Altare die Statuten des Vereins und ladete zum Beitritt ein. Auf der Stelle unterschrieben 35 Gemeindeglieder und wuchs die Zahl der Beitretenden am nächsten Sonntag bis auf 70. Darnach wurden bei den Lehrern der Gemeinde, die sich des jungen Vereins eifrig und thätig annahmen, so wie bei einem Vereinsmitgliede, Verzeichnisse zum Unterschreiben ausgelegt, und war bis zum 31. Jan. d.J. die Zahl der Mitglieder bis auf 140 gestiegen. Wie anderwärts, so fehlte es auch in Wüsten der guten Sache nicht an Gegnern, welche durch allerlei Scheingründe ihren Nichtbeitritt in den Verein zu entschuldigen und zu rechtfertigen und denselben zu verdächtigen suchten. Dadurch ward dem Vereine nicht wenig geschadet und schien derselbe um so mehr in einen gewissen Stillstand zu gerathen, als gerade die größeren Stättebesitzer, und unter ihnen nicht wenige christlichgesinnte Männer, sich vom Vereine fernhielten:

Ein schaudererregendes Ereigniß ward jüngst Veranlassung, dem Vereine einen neuen nicht geahneten Aufschwung und neues frisches Leben zu geben.

Am 31. Jan. d.J. kehren drei Brüder, die Einlieger Prüßner zu Unterwüsten, von Lemgo zurück, wo sie sich nach Arbeit im Auslande für den nächsten Sommer umgesehen haben. Wie schon in Lemgo, so nehmen sie auch in Salzuflen (1 Stunde von Wüsten) Branntewein zu sich. Abends 5 Uhr verlassen sie Uflen. Aber der älteste Bruder ist dermaßen angetrunken, daß die beiden jüngeren Brüder ihn leiten müssen. Nur langsam und mit großer Anstrengung bringen sie denselben weiter. Er stürzt wiederholt und sinkt zuletzt, als sie noch etwa 20 Minuten von Wüsten entfernt sind, förmlich zusammen. Der jüngste Bruder holt einen Schiebkarren herbei, auf welchen der Betrunkene, ganz besinnungslos gelegt und von den Brüdern mit großer Anstrengung zur Wohnung des zweiten Bruders geschafft wird. Nachts 11 Uhr trifft man dort ein. Man bereitet dem Besinnungslosen ein Lager in der Stube, in der Hoffnung, daß er am nächsten Morgen wieder nüchtern seyn werde. Aber am nächsten Morgen ist er eine Beute des Brannteweins. Ohne wieder zur Besinnung gekommen zu seyn, giebt der unglückliche Mann, Gatte und Vater zweier unversorgten Kinder, seinen Geist auf.

Am nächsten Sonntage, den 7. Februar, redete der Unterzeichnete, mit specieller Beziehung auf das so beklagenswerthe Ereigniß, nach 1 Cor. 3, 16 (Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seyd und der Geist Gottes in euch wohnet. Wer den Tempel Gottes verderbet, den wird Gott verderben; denn der Tempel Gottes ist heilig, der seyd ihr) über: Lehren und Warnungen, die uns ein selbstverschuldeter schneller Tod giebt." Die Predigt verfehlte die gewünschte Wirkung nicht, denn sofort und bis zum 14. Febr. ließen sich 140 neue Mitglieder in den Verein aufnehmen. Sofern die Gegner des Vereins abermals ihre Stimme laut gegen den Verein erhoben, hielt es der Unterzeichnete für nothwendig, sofort am nächsten Sonntage gegen erstere aufzutreten und wählte nach1. Cor. 8. 15 (Darum, so die Speise meinen Bruder ärgert, wollte ich nimmermehr Fleisch essen, auf daß ich meinen Bruder nicht ärgerte) zum Thema: Widerlegung der Gründe, durch welche so manche Christen ihren Nichteintritt in den Entsagungs-Verein zu entschuldigen und zu rechtfertigen suchen. Auch dieses Wort kam nicht leer zu ihm zurück, indem sich vom 14. bis den 21. Febr. abermals 231 Gemeindeglieder in den Verein aufnehmen ließen. Vom 21. bis den 28. Febr. ist die Zahl abermals um mehr als 100 neue Mitglieder gestiegen, so daß der hiesige Verein in diesem Augenblicke an 640 Mitglieder zählt. Noch täglich wächst derselbe. Viele Gegner sind bereits verstummt, andere gewonnen, und läßt es sich sichtbarlich an, daß der Branntewein vielleicht in nächster Zukunft ganz aus der Gemeinde Wüsten verbannt seyn wird.

Bei einer in diesen Tagen mit den Orts- und Armen-Vorstehern stattgehabten Berathung wegen außerordentlicher Unterstützung der hiesigen Armen ward als Grundsatz aufgestellt, daß in dieser Zeit der Noth und Bedrängnis namentlich die Armen sich des Brannteweins gänzlich zu enthalten hätten, weshalb jeder Hülfsbedürftige, der sich des Brannteweins nicht enthalten könne, von jeglicher Unterstützung ausgeschlossen bleiben müsse. Wie jetzt, so wird deshalb auch in Zukunft strenge darauf gehalten werden, daß nur solche hiesige Arme regelmäßige und außerordentliche Unterstützungen aus Armenmitteln erhalten, welche dem hiesigen Entsagungs-Vereine beitreten. Es wäre in der That sehr zu wünschen, daß in allen Gauen des deutschen Vaterlandes in gleicher Weise bei Unterstützung der Nothleidenden verfahren würde !

Zugleich sey hiermit bemerkt, daß schon im Jahre 1845 die beim Neubau der hiesigen Kirche niedergesetzte Baudeputation bestimmt hatte, daß beim baue von den Arbeitern kein Branntewein getrunken werden solle. Der Segen dieses Beschlusses ist nicht ausgeblieben, indem beim ganzen zum Theil gefährlichen Baue sich nicht das geringste Unglück zugetragen hat.-

Schließlich richtet der Unterzeichnete an diejenigen seiner Amtsbrüder und resp. Vorsitzenden, in deren Gemeinden und Kreisen Mäßigkeits- oder Entsagungsvereine bestehen, die dringende Bitte, ihm doch gefälligst bald über die fraglichen Vereine einige Notizen  zugehen zu lassen, namentlich, wie lange dieselben bestehen, welchen günstigen oder ungünstigen Fortgang dieselben gehabt haben und wie hoch sich die Zahl der Mitglieder zur Zeit beläuft. Derselbe beabsichtigt nämlich, auf ein von ihm schon voriges Jahr gegebenes Versprechen, im Central-Blatt für die Rheinisch-Westphälischen Enthaltsamkeitsvereine (dessen Redacteur der Pastor Josephsohn ist; Preis des ganzen Jahrgangs von 26 Nr. 5 Sgr.) über den dermaligen Stand der Mäßigkeits- und Entsagungsvereine im Lippischen einen kurzen Bericht zu erstatten und diesen Bericht zugleich der Redaction der Vaterländischen Blätter zur gefälligen Aufnahme in diesen Blättern zuzusenden, um dadurch auch in näheren Kreisen die hochwichtige Entsagungsangelegenheit, welche früher selbst von Hochfürstlicher Regierung, namentlich durch die Verbreitung der Schriften des verstorbenen Pastors Schönfeld zu Uflen über die Entsagungsrechte, begünstigt worden ist, auch viele Freunde und Beförderer gefunden hat, aber in den letzten Jahren vieler Orten in einen gewissen Stillstand und Rückgang gerathen ist, aufs Neue anzuregen.

                               

Wüsten im März 1847.
Knoll

 

Qellen: Vaterländische Blätter. Fünfter Jahrgang, Nr. 52, Detmold, den 27. März 1847, Sp. 828ff.
  Dank an Herrn Hans-Dieter Hibbeln, der mir den Hinweis zu obiger Literaturquellen gab.