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1796 grassiert in Wüsten die Rote Ruhr

Pastor Köhler trägt Mitte September 1796 als 39. gestorbene/r Bürger/in in das Wüstener Kirchenbuch ein:
Als Gerstorbene: "Anne Marie Lambrachts, des Jobst Henrich Lambrachts und der Anne Ilsabein Albers,
Einlieger und alte Leute auf Albersmeiers Hofe Nr. [3] in Unterwüsten.
Des Sonntags Nachmittags begraben - 3-4 Uhr."
Als Todesursache: "Rothe Ruhr.
Die erste, an der Krankheit dies Jahr, wo sie im August anfing - gestorben."
Gestorben und begraben: "gest. 14ten [September 1796] 7 Uhr Abends, [begraben] 18ten [September 1796]".
und das Alter von Anne Marie: "19 Jahre [und] 6 Monate".

Die Rote Ruhr: bei Menschen eine - bis Ende des 19. Jahrhunderts - meist epidemisch durch den Dysenteriebazillus auftretende Infektionskrankheit, die sich besonders in einer Entzündung der Dickdarmschleimhaut äußert. Die Ruhrbazillen ähneln den Typhusbazillen. Die Verbreitung der hauptsächlich bei mangelnder Hygiene in den Sommermonaten auftretenden Erkrankung erfolgt durch Berührung mit den bazillenhaltigen Stuhlentleerungen; Übertragung durch Hände, Wäsche, Fliegen, infiziertes Wasser oder Nahrungsmittel. Die Krankheit beginnt mit einem scheinbar harmlosen Durchfall. Später werden die Leibschmerzen heftiger und die Stuhlentleerungen nehmen an Häufigkeit zu (über 30 und mehr in 24 Stunden). Die geringen Mengen an entleertem Darminhalt sind durchsetzt mit eitrigem blutigem Schleim. Die Schmerzen nehmen an Heftigkeit zu, hinzu kommt Fieber und höchste Entkräftung. Es entwickeln sich im Darm Geschwüre, die fast die ganze Schleimhaut zerstören und die Darmwand durchbrechen. Die Rote Ruhr führte häufig zum Tod der Erkrankten.        
Über die hygienischen Verhältnisse am Ende des 18. Jahrhunderts in unserer Gegend wissen wir nicht besonders viel. Erst 100 Jahre später prangert Dr. med. Ulrich Volkhausen (uns allen besser unter seinem Pseudonym Korl Biegemann bekannt) als in Schötmar niedergelassener Arzt und am 1. Januar 1894 bestellter Physikus (frei übersetzt "Amtsarzt") mit Sitz in Schötmar, die hygienischen Verhältnisse in unserm Gebiet scharf an. 100 Jahre zuvor, dürften sie nicht besser gewesen sein.
"Unter den sogenannten alten Kötterhäusern findet man Räume, in welche die Bauern ihr Vieh einzustellen genieren würden, für Ihre Leute aber für gut genug halten. Dunkle Löcher mit Lehmboden, ohne feste Decken, die Kammern nur durch ein sogenanntes Lett erleuchtet. Die Keller werden durch Gruben repräsentiert, die sich unter dem Bette befinden, in welchen Kartoffeln, Rüben usw. lagern. Hierin entwickeln sich eine Unmasse Pilze, Dunst und Moder. Wenn man nun bedenkt, daß Vater, Mutter und viele Kinder in einem solchen Raume schlafen, so ist es mehr wie ein Wunder, daß nicht viel häufiger Seuchen ausbrechen."  
und weiter:
"In der kleinen Küche halten sich die Insassen ... den ganzen Tag auf; zusammen mit Hund und Katze. Die Ausdünstung dieser vielen mischt sich dann mit dem täglichen Koch- und Kohlendunste, so daß der Aufenthalt kein beneidenswerter ist. ... Die Aborte sind gewöhnlich in den Ställen, meist in den Schweineställen, auf dem Lande über oder an den Dunggruben. Hierin werden auch die Haushaltungsabfälle und -wässer, sofern sie nicht wieder im Viehhaushalt Verwendung finden, geleitet ..."
In seinen Physikatsberichten an die Hochfürstliche Regierung brandmarkt er auch die unsauberen Brunnen, die häufig in unmittelbarer Nachbarschaft der Dunggruben stehen, und Bäche, die sowohl zur Abfallbeseitigung als auch zur Trinkwasserentnahme dienten.
Diese alle waren die Brutstätten des Ruhrbazillus.
Immer wieder gab es seit der Aufzeichnung der Sterbefälle in unseren Wüstener Kirchenbüchern (1671) die Todesursache "Rothe Ruhr". Zu einer größeren Epidemie ist es aber nie gekommen. Erst 1796 brach sie in einer bis dahin nicht gekannten Heftigkeit aus. In zweieinhalb Monaten raffte sie knapp 60 (57) Wüstener Einwohner dahin. Ungeachtet des Standes und des Alters erkrankten die Menschen in Wüsten an dieser seuchenartigen Epidemie und viele von ihnen starben.

Sterbedatum

Name – OW=Oberwüsten, UW=Unterwüsten

Alter

14. September

Anne Marie Lambracht auf Albertsmeiers Hofe in UW

19 Jahre, 6 Monate

19. September

Hermann Friedrich Kruse in Sundern in UW

8 Jahre, 9 Wochen

20. September

Anne Margrethe Althof auf Iggensen Hofe in UW

64 Jahre, 6 Monate

22. September

Wilhelmine Sophie Schemmel in UW

1 Jahr, 14 Tage

22. September

Johann Christoph Eikermeier auf Schemmels Hofe

9 Jahre, 9 Monate

23. September

Johann Otto Alber auf Schuckmanns Hofe Nr. 2 in UW

14 Jahre 9 Monate

25. September

Anne Luise Henriette Brand

5 Jahre, 3 Monate

26. September

Anne Marie Elisabeth Jobst Harde in UW

10 Monate

26. September

Franz Henrich Adolph zur Heide

5 Jahre

27. September

Johann Otto Hüdepohl (Anerbe) in UW

16 Jahre, 9 Monate

28. September

Anne Sophie Luise Schalk und Friederike Luise Schalk
aus dem Sunderschlinge Nr. 49, UW

4 Jahre, 8 Monate

28. September

2 Jahre, 6 Monate

29. September

Hanß Henrich Reetemeier, auf Kegelbernds Stätte UW

4 Jahre, 6 Monate

29. September

Anne Luise Broer, auf der Wüstenbeke in UW

46 Jahre

29. September

Anne Elisabeth Bruningsmeier (Leibzüchterin) in OW

74 Jahre

30. September

Anne Cathrine Elisabeth Wienböker

1 Jahr, 10 Monate

30. September

Elisabeth Albert

9 Jahre, 15 Wochen

30. September

Töns Henrich Johann Jobst Wattenberg

4 Jahre, 3 Monate

1. Oktober

Fiederike Luise Göner von der Krutheide in UW

3 Jahre 9 Monate

2. Oktober

Johann Otto Broer, auf Deppen Hofe Hellerhausen UW

10 Jahre, 5 Monate

2. Oktober

Johann Henrich Remmert

15 Jahre 2 Monate

3. Oktober

Johann Henrich Klocke, auf Jobstmeiers Hofe in UW

35 Jahre

3. Oktober

Anne Elisabeth Rauchschwalen

1 Jahr, 22 Wochen

4. Oktober

Simon Henrich Tölle, auf Raschen Hofe in OW

2 Jahre, 10 Monate

4. Oktober

Anne Margrethe Engelkenmeiers in UW Nr. 12

60 Jahre

5. Oktober

Johann Henrich Meise al. Schwinschenmeier in UW

2 Jahre, 6 Monate

6. Oktober

Wilhelmine Luise Meise, Tochter des Untervogt

24 Wochen

6. Oktober

Anne Marie Luise Reetmeier, auf Brinkmeiers Hofe,UW

3 Jahre, 3 Monate

7. Oktober

Henrich Philipp Stuckmann

37 Wochen

8. Oktober

Philipp Henrich Tielke, Bei Buschmeier Nr. 47 in OW

15 Jahre, 7 Monate

8. Oktober

Johann Christoph Meise od. Schwinschenmeier, UW

44 Jahre, 6 Monate

10. Oktober

Anne Luise Wüstenbecker

10 Jahre, 9 Monate

10. Oktober

Anne Elisabeth zur Heide al. Henrichsmeier

18 Wochen, 6 Tage

10. Oktober

Anne Marie Luise Schwein in UW

1 Jahr, 23 Wochen

11. Oktober

Anne Luise Cathrine Wilhelmine Klemann in UW

16 Jahre, 4 Monate

12. Oktober

Anne Sophie Hansmeier, OW Nr. 58

4 Jahre, 9 Monate

13. Oktober

Johann Hermann Reetmeier auf Brinkmeiers Hofe UW

22 Jahre

14. Oktober

Cathrine Elisabeth Scheiper im Langenberge in UW

7 Jahre

14. Oktober

Anne Cathrina Arnings auf Brands Hofe in UW Nr. 37

73 Jahre

15. Oktober

Anna Marie Luise Wüstenbecker

11 Monate

18. Oktober

Anne Cathrine zur Heide auf Raschen Hofe in OW

43 Jahre

19. Oktober

Anne Marie Ilsabein Büscher

8 Jahre, 11 Monate

21. Oktober

Johann Jobst Beiner, auf der Krutheide UW Nr. 50

34 Jahre

22. Oktober

Margrethe Ilsabein Klocke im Krautkruge UW Nr. 32

69 Jahre

24. Oktober

Anna Ilsabein Müßemeier, UW Nr. 34

64 Jahre, 6 Monate

25. Oktober

Anna Sophie Elisabeth Rasche, OW Nr. 4

45 Jahre, 9 Monate

26. Oktober

Anne Marie Deppe, UW Nr. 30

1 Jahr, 5 Monate

31. Oktober

Johann Jobst Beiner, Leibzüchter, UW Nr. 50

62 Jahre 1½ Monate

1. November

Anne Cathrine Ilsabein Göner, Nr. 50 in OW

28 Jahre, 2 Monate

2. November

Anne Cathrine Elisabeth zur Heide a. Kochmeiers Hofe

5 Jahre, 5 Monate

3. November

Anne Marie Luise Kruthöfer im Langenberge in UW

1 Jahr, 11½ Monate

4. November

Friedrich Wilhelm Scheiper im Langenberge in UW

4 Jahre, 5 Monate

4. November

Bartold Henrich Hofmann auf Göners Hofe in OW

5 Jahre, 10 Monate

8. November

Johann Henrich Tielke auf Schuckmanns Hofe, UW

19 Jahre, 7 Monate

8. November

Friederike Henriette Brand auf Steinsiekers Hofe OW

2 Jahre, 7 Monate

23. November

Anne Ilsabein Hofmeister auf Hofmeisters Hofe in UW

81 Jahre, 6 Monate

27. November

Johann Christoph Althof, Meier in Pehlen in UW

41 Jahre, 11 Monate

"Die erste, an der Krankheit dies Jahr, wo sie im August anfing - gestorben" schreibt Pastor Köhler als Bemerkung unter der Todesursache der noch nicht zwanzigjährigen Anne Marie Lambracht auf Albertsmeiers Hofe in Unterwüsten. Fast jedes Jahr gab es in den Sommermonaten ein paar Todesfälle mit der Ursache "Rothe Ruhr" Ahnte er schon, dass er in der nächsten Zeit viele Grabreden zu halten habe?   
Es ist nicht nur die hohe Anzahl von Gestorbenen sondern es sind auch die Einzelschicksale, die selbst nach über 200 Jahren noch betroffen macht. Die jüngste war gerade einmal 5 Monate, die älteste über 81 Jahre als sie von dieser heimtückischen Krankheit dahingerafft wurden.
Die Bäuerin Anne Margrethe Engelke[nmeiers], die nach 8 Wochen schwerer Krankheit - ohne schmerzstillende Medikamente - an der Roten Ruhr am 4. Oktober 1796 mit 66 Jahren starb.
Die Anne Luise Cathrine Wilhelmine Klemann in Unterwüsten, die im Alter von 16 Jahren und 4 Monaten starb und der Pastor seinem Eintrag ins Kirchenbuch hinzusetzte: "NB. aus Geitz war das Kind vernachläßiget".
– Oder am 1. Oktober, wo Johann Henrich Berend Schalk aus dem Sunderschlinge und Anne Ilsabein Mügge gleich zwei ihrer jungen Töchter, die an einem Tag gestorben waren, begraben lassen mussten. Pastor Köhler schreibt: "... das älteste Mägdlein hieß Anna Sophie Luise, das jüngste Mädchen Friederike Luise. Beide starben an einem Tage an neuer Krankheit. Kamen in einen Sarg und in eine Grube."
Johann Henrich Tielke, Sohn des  Johann Otto Tielke und der Anna Luise Goner, Einlieger auf Schuckmanns Hofe in Unterwüsten Nr. 2, starb mit 19 Jahren und 7 Monaten. "Der Mensch kam zwey Tage vorher gesund und stark aus Holland wo er gearbeitet wurde gleich angesteckt starb nach 11 Tagen".
– Am 21. Oktober 1796 starb mit 34 Jahren Johann Jobst Beiner Kolon auf der Krutheide Nr. 50. Am 31. sein Vater Johann Jobst Beiner, der Leibzüchter mit 62 Jahren. "Kam zuletzt, als der älteste in der Kuhstätte", kommentiert Pastor Köhler.
Johann Christoph Althof, Meier in Pehlen Nr. 33 starb am 27 November 1796.
Meier Althof war der letzte, der bei dieser Epidemie zu Tode kam. Erst viele Jahre später trat diese Seuchenkrankheit in Einzelfällen in Wüsten wieder auf. Aber schon 1799 und 1800 breitete sich eine neue Seuche in unserem Dorf aus. Die Blattern!
Pastor Johann Dietrich Gerhard Siegmund Köhler (1792-1805), wie er mit vollem Namen hieß, haben wir es zu verdanken, dass wir etwas mehr über die Verstorbenen erfahren haben. Er kommentierte neben den nüchternen und vorgeschriebenen Eintragungen die eine oder andere Begebenheit, die uns ein wenig Einblick in diese Zeit gibt.

 
 
 
 
 
 
 
 








 
 
 
Pastor Köhler hat zum Abschluß des Jahres 1796 eine kleine Zusammenfassung der Gestorbenen ins Kirchenbuch geschrieben. Auch hier erwähnt er die 60, bei denen die Todesursache "rothe Ruhr" war.
 
Quellen: Bender, Wolfgang: Die Hand am Puls der Zeit. Lippische Alltagsgeschichte des 19. Jahrhunderts im Spiegel amtsärztlicher Berichte. Detmold, 2000.
Wüstener Kirchenbuch von 1796 bis 1839 im Archiv der Lippischen Landeskirche, Detmold.
Der Große Brockhaus, Sechzehnter Band Roc-Schq, Leipzig 1933.
In einem hervorragenden Aufsatz behandelt Frau Dr. phil. Margrit Sollbach-Papeler "Die Ruhr-Epidemie in Hagen 1795 / 1796" http://www.historisches-centrum.de/einblicke/02/200207.shtml