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Die nachstehende Arbeit kam zum Erstabdruck im Jahrbuch Bad Salzuflen 1999.
 Dem Autor, Herrn Dr. Nicolas Rügge, und den Herausgebern des Jahrbuches, den Herren Franz Meyer, Uwe Rottkamp und Stefan Wiesekopsieker bin ich für die Genehmigung, den Aufsatz in der Wüstener Geschichts-Hompage „www.woiste.de“ veröffentlichen zu dürfen, sehr dankbar. Berührt doch das Geschehene nicht nur die Verhältnisse im Fürstentum Lippe um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sondern auch die Geschichte der beiden Bauerschaften Ober- und Unterwüsten und im weitesten Sinne auch meine eigene Familienhistorie.

"Des Leibeigenthums entlassen"
Ein Freikauf aus Wüsten aus dem Jahre 1796

Nicolas Rügge
Auf zahlreichen lippischen Höfen werden noch Schriftstücke aus vergangenen Jahrhunderten verwahrt. Was die Vorfahren mit Bedacht aufhoben, weil es ihre Rechte und Ansprüche dokumentierte, hat zwar inzwischen meist keine praktische Bedeutung mehr, ist aber für den Historiker von hohem Aussagewert. Denn die erhaltenen Schuldverschreibungen, Eheprotokolle, Prozeßakten usw. ermöglichen detaillierte Einblicke in die Sozial- und Familiengeschichte früherer Zeiten und ergänzen die „offiziellen“, in den staatlichen und kommunalen Archiven verwahrten Bestände.
Doch so erfreulich es ist, wenn ein Hof- und Familienarchiv gepflegt und in Ehren gehalten wird, es besteht immer die Gefahr, daß die Überlieferung auf längere Sicht verloren geht. Ein Hausbrand kommt
 
heute zwar viel seltener vor als früher, doch was zehn Generationen aufgehoben haben, wirft die elfte möglicherweise achtlos weg. Auch werden die Dokumente nicht immer sachgerecht gelagert, sondern mitunter dem Licht oder der Feuchtigkeit zu sehr ausgesetzt. Im Zweifelsfall ist daher zu erwägen, ob man sich nicht lieber eine gute Reproduktion an die Wand hängen und die Originale als Leihgabe einem Archiv übergeben sollte. Die Eigentumsverhältnisse ändern sich hierdurch nicht, und die alten „Schätze“ können jederzeit nach Hause zurückgeholt werden.
Auf solche Weise erhielt das Stadtarchiv Bad Salzuflen im Dezember 1996 eine 200 Jahre alte Pergament-Urkunde mit (etwas beschädigtem) Siegel. Der Eigentümer Ewald Becker aus Lemgo-Brüntorf, machte das Dokument damit dankenswerterweise der Öffentlichkeit bekannt und zugänglich.1

Die Urkunde über den Freikauf der Witwe Tielke mit der Unterschrift des Fürsten Leopold zur Lippe und dem (beschädigten) Siegel der Fürstlich Lippischen (Rent-)Kammer.

Der Text der Urkunde lautet:
Von Gottes Gnaden, Wir Friedrich Wilhelm Leopold, Regierender Fürst zur Lippe, Edler Herr und Graf zu Schwalenberg und Sternberg, Souverain von Vianen und Ameyden, Erb-Burg-Graf zu Ütrecht.
Thun kund und fügen hiermit zu wissen, daß, nachdem die Wittwe Hoppenplöckerin Tielken N[ummer] 47 in der Oberwüsten unterthänigst nachgesucht hat, Wir gnädigst geruhen möchten, sowohl sie, ihre drey Söhne und zwey Töchter des Leibeigenthums zu entlassen, als die auf ihrer Stätte haftende eigenbehörige Qualität aufzuheben, und sich erbotten hat dafür gleich 8 Gfl. [= Goldflorin, Gulden] zu bezahlen, künftig aber jedes Jahr auf Martini [= 11. November] zehn Mariengroschen Canons-Gelder, und zwar 1796 zum erstenmahl in das Rentregister des Amts Schötmar promt zu entrichten, wir dessen Suchen, jedoch unter der Bedingung der Erhöhung oder Verminderung des jährlichen Canons, wann auf Güter von gleicher Größe und Beschaffenheit, bey allgemeiner Aufhebung des Leibeigenthums ein
 
höherer oder geringerer Canon fallen sollte, gnädigst statt gegeben haben und sie, ihre fünf Kinder hiemit und in Kraft dieses [Briefes] nicht nur des Leibeigenthums entlassen, sondern auch die auf solcher Stätte haftende eigenbehörige Qualität gänzlich aufheben, so daß Sie und ihre Kinder solche, so lange sie jene Canons-Gelder jährlich davon richtig abführen, als freie Personen, ohne zu den mit dem Leibeigenthum verknüpften Verbindlichkeiten schuldig zu seyn, besitzen können und mögen. Zu Urkund dessen ist darüber dieses Document ausgefertigt, von Uns Höchsteigenhändig, mit gewöhnlicher Consignierung unterschrieben und Unser Cammer-Siegel daran gehangen worden.
Detmold den 30ten Mai 1796.
[gez.] F W Leopold Fürst z[ur] Lippe.
v. Hoffmann [Kanzler]
Document für die Wittwe Hoppenplöckerin Jürgen Tielken N[ummer] 47 in der Oberwüsten, über die Aufhebung des personal- und real-Eigenthums auf ihrer Stätte.
Um nun die Art der hier vorgenommenen „Befreiung“ besser verstehen zu können, sei kurz an die grundherrschaftliche Verfassung der lippischen Dörfer erinnert. Die damals als „Colonate“ bezeichneten ländlichen Anwesen, wurden von den Bewohnern fast ausnahmslos nur „meierstättisch“ besessen, was bedeutete, daß die wirtschaftenden Familien streng genommen nicht über Eigentumsrechte an Grund und Boden verfügten. Auch wenn sie in der Regel über eine viele Generationen ungestört im Besitz der Höfe blieben, waren sie rechtlich gesehen nur Erbpächter, die ohne Zustimmung des Grundherren keine Verpfändungen oder gar Veräußerungen vornehmen durften.
Die Witwe Tielke stand als „Hoppenplöckerin“ auf der zweituntersten Stufe der, je nach Steuerkraft, in verschiedene Besitzklassen eingestuften Colonate. Der kleine Hof war eine typische Spätsiedlerstelle, deren Gründung erst in eine Zeit fiel, als das beste Ackerland längst an die größeren Höfe vergeben war. Der Stättegründer Jürgen Tielke stammte vermutlich von dem Hof Nr. 11 in Unterwüsten (heute Pehlen Nr. 2). 1669 erhielt er vom Landesherrn ein kleines, zusammenhängendes Landstück in Oberwüsten angewiesen und baute dort ein Haus. Durch diese Ansiedlung auf einem zuvor als Hude oder Wald genutzten Gelände, das dem lippischen Grafen gehörte („Zuschlag“), wurde Tielke, anders als seine Vorfahren, dem Landesherrn „eigenbehörig“ (leibeigen). Zur Unterscheidung von den anderen Wüstener Familien dieses Namens wurde die Stätte, wie in der Urkunde zu lesen, nach dem Erstsiedler mitunter als „Jürgen-Tielke“ bezeichnet.
Der Ertrag der Stätte war gering, und die Bewohner mußten sich zweifellos im Leinengewerbe, als Arbeitskräfte auf den großen Höfen oder als Wanderarbeiter einen zusätzlichen Erwerb verschaffen. Selbst nach vermutlichen Neuerwerbungen im Zuge der Gemeinheitsteilungen gehörten nur 3,75 ha Land zu der Stätte (1883). Von der Familie Tielke ging der Hof um 1900 an die Eheleute Becker in Brüntorf über, von deren Nachfahren Ewald Becker das Stadtarchiv die Urkunde erhielt. An die Tielkes erinnern noch zwei Häuser von 1813 und 1882 mit Torbogeninschriften (Voßhäger Weg 5/5a).2
Wie in der textlichen Zusammenfassung der Urkunde betont wird, wurde die Familie Tielke in doppelter Weise „befreit“. Zum einen ging es um das „Leibeigentum“3 im engeren Sinn: Von den persönlich Unfreien stand dem Leibherrn (hier: dem lippischen Grafen) der „Sterbefall“ zu, eine Art von Erbschaftssteuer, die die „Leibfreien“ unter den lippischen Bauern nicht zu entrichten brauchten. Außerdem waren die „Eigenbehörigen“ in ihrer Freizügigkeit eingeschränkt: Wollten sie fortziehen oder auf einen freien oder fremden Herren zugehörigen Hof heiraten, mußten sie sich zuvor bei ihrem Leibherrn freikaufen. Freibriefe solcher Art wurden häufig ausgestellt.
Zum anderen handelte es sich in diesem Fall um den dauerhaften Freikauf der gesamten Stätte von den leibherrlichen Lasten. Zugleich fiel fortan auch eine

Modernisiertes Deelentor am Haus Voßhäger Weg 5a in Bad Salzuflen, Ortsteil Wüsten (ehemals Oberwüsten Nr. 47). Die Torbogeninschrift erinnert an die einst hier lebende Familie Tielke.

Der ungelenk formulierte Text lautet:
ANNO 1813 DEN 5 JULIUS HAT JOHANN HENRICH TIELCKE  UND ANNA MARIA FRIEDERIKE KORTMEIERS HABEN DIESES HAUS LASSEN BAUEN  BIS HIERHER HAT MICH DER HERR GEHOLFEN

 
wichtige grundherrliche Abgabe fort, nämlich der bisher beim Hofantritt zu zahlende Weinkauf. Dies scheint sich jedenfalls hinter der Aufhebung des „real-Eigenthums“ zu verbergen. Die flächendeckende Umwandlung dieser Abgaben in feste, ablösbare Renten war schon in der Regierungszeit des reformfreundlichen Grafen Simon August (1747-1782) geplant gewesen.4 Der zitierte Urkundentext von 1796 zeigt, daß man damals ein solches Gesetz in absehbarer Zeit erwartete und für die zukünftigen Regelungen „bey allgemeiner Aufhebung des Leibeigenthums“ Vorsorge trug.5
Was die Witwe Tielke für sich und ihre Kinder erlangte, wurde für die anderen dem lippischen Fürsten eigenen Familien erst 1808 Wirklichkeit. Die große Ablösung der grundherrlichen Hauptlast, nämlich der Abgaben und Dienste, setzte erst 1838 ein.
Warum den Tielkes schon 1796 an einer Freilassung gelegen war, lässt sich aus ihren etwas verwickelten Familien- und Verwandschaftsverhältnissen erschließen.7 Die 1796 als Witwe Tielke bezeichnete Frau war zu dieser Zeit 46 Jahre alt. Sie war geboren am 25. Februar 1750 als Margarete Ilsabein, Tochter des Friedrich Johann Henrich Pauk oder Buschmeier in Unterwüsten Nr. 31 (heute Salzeweg 12). Dieser kleine Hof, ebenfalls eine Hoppenplöckerstätte, wurde analog zum „Jürgen-Tielke“ auch als „Bernd-Pauk“ bezeichnet. Margarete Ilsabeins Mutter hatte das Anwesen geerbt; ihr Vater war aus dem Krautkrug gebürtig und hatte den Hofnamen angenommen. Am 3. Juni 1771 fand die Heirat mit dem kinderlos verwitweten Johann Töns Tielke in Oberwüsten Nr. 47 statt. Sie zog zu ihm auf die Stätte, wo dem Ehepaar fünf Kinder geboren wurden: Johann Henrich (1772), Anna Elisabeth (1775), Johann Bernd (1778), Philipp Henrich (1778) und Johann Friedrich (1783).
Am 14. März 1784 starb Frau Tielkes Vater, der Witwer F.J.H. Pauk oder Buschmeier, nach längerer Krankheit im 58. Lebensjahr. Auf dem Totenbett hatte er ihr als einzigem überlebendem Kind seine Stätte und all sein Hab und Gut vermacht. Der eigentliche Anerbe Johann Albert war einst ohne Erlaubnis aus dem Land gegangen und soll 1778 als preußischer Soldat im bayerischen Erbfolgekrieg in Sachsen gestorben sein. Da Pauk als Eigenbehöriger nicht so ohne weiteres über seinen Nachlaß und die Erbfolge verfügen konnte, war ein längerer Schriftwechsel mit dem Amt erforderlich.8 Doch schließlich trat Margarete Ilsabein Tielke geb. Pauk ihr elterliches Erbe an, so daß sie gemeinsam mit ihrem Ehemann nun über zwei Stätten gleichzeitig verfügte! Dabei war der Pauksche Hof in Unterwüsten anscheinend attraktiver: Statt eines einzigen Gebäudes wie bei Tielke gehörten nämlich ein Wohnhaus, eine Leibzucht und ein Backhaus dazu. Auch scheint das Land ertragreicher gewesen zu sein.9 Wohl aus diesen Gründen zog das Ehepaar Tielke um 1785 aus Oberwüsten dorthin um, wo ihnen schließlich noch die Tochter Anna Sophia Friderica (1786), jetzt unter dem Hofnamen Pauk, geboren wurde.
Nachdem der Ehemann Johann Töns Tielke, nun Pauk genannt, am 1. Februar 1791 an der "Hauptkrankheit" gestorben war, verwaltete die Witwe mit ihren inzwischen nur noch fünf Kindern10 den Besitz zunächst allein. Erst 1796 plante sie, eine zweite Ehe mit dem Witwer Johann Hermann Pumpenmeier in Unterwüsten Nr. 46 einzugehen. In diesem Zusammenhang gehörte zweifellos der Entschluß zum Freikauf. Denn durch die Heirat am 20. Oktober 1796 brachte die Witwe Tielke sogar eine dritte Stätte in ihren, wenigstens zeitweiligen Besitz. Unklar ist, ob sie zusammen mit ihren Kindern sofort zu ihrem neuen Ehemann ziehen wollte und deshalb die persönliche Freiheit für alle und die freie Verfügbarkeit über ihre zuvor eigenbehörigen Stätten benötigte. Jedenfalls ließen beide Eheleute am 5. Juni 1801 ein neues Wohnhaus auf dem Hof Pumpenmeier errichten.11 Hier, in der heutigen Ringstraße 6a, ist Margarete Ilsabein auch am 15. April 1823 im Alter von 73 Jahren an der „Auszehrung“ gestorben. Ein anderes Motiv für den umfassenden Freikauf könnte gewesen sein, über die Erbfolge auf ihren anderen beiden Besitzungen frei bestimmen zu können. Für den Paukschen Hof, der ebenfalls am 30. Mai 1796 aus der Eigenbehörigkeit entlassen wurde,12 muß auch eine entsprechende Urkunde ausgefertigt worden sein, die die selbe Person nicht als „Witwe Tielke“, sondern als „Witwe Pauk“ genannt haben muß! So kam es jedenfalls, daß von den beiden schließlich überlebenden Söhnen der ältere die Stätte des Vaters erbte (Johann Henrich Jürgen-Tielke, 1772-1847) und der jüngere die Stätte der Mutter (Johann Bernd Pauk oder Buschmeier, 1778-1861). Der jüngste Sohn Philipp Henrich, vom Pfarrer als hoffnungsvoller Jüngling (juvenis bonae spei“) betrauert, starb 1796 im Alter von 15 Jahren an einer in Wüsten grassierenden Ruhrepidemie.
Die beiden Töchter heirateten später inerhalb der Bauerschaft Unterwüsten auf die Höfe Franzmeier (Anna Elisabeth, 1775-1814) und Wichmann Nr. 41 (Anna Sophia Friderica, 1786-1866). – Das letzte genannte jüngste der 1796 freigelassenen Kinder verstarb also erst zu einer Zeit, als sich die Nachkommen der einst „eigenbehörigen“ Lipper schon auf dem Weg ins Kaiserreich befanden.
Anmerkungen

 
1 Siehe den Bericht "Die Witwe und der Fürst", in Lippische Landeszeitung vom 20.2.1997. Das dem Bad Salzufler Stadtarchiv übergebene Dokument trägt jetzt die Signatur S 10. - Für freundliche Unterstützung danke ich Herrn Stadtarchivar Franz Meier.
2 Erwin Schubert, Zeugen aus der Vergangenheit Wüstens, Bad Salzuflen-Wüsten 1990, S. 68.
3 Vgl. Bernd Hüllinghorst, "Das keine ärmere geplagte leute in der Grafschaft Lippe wohneten!" Die lippische Leibherrschaft im 17. Jahrhundert, in: Der Weserraum zwischen 1500 und 1650: Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur in der frühen Neuzeit, Marburg 1993, S. 93-113. Zur Einführung in die frühere lippische Agrarverfassung vgl. immer noch Albrecht Tasche, Das lippische Höferecht, Lage 1909; Heinrich August Krawinkel, die Grundherrschaft in Lippe, in: Mitteilungen aus der lippischen Geschichte und Landeskunde 15 (1935), S. 82-162.
4 Erich Kittel, Heimatchronik d. Kreises Lippe, Köln 1978, S. 164.
 
5 Bei einem entsprechenden Freikauf des Hofes Feger Nr. 5 in Hardissen wurde bereits 1791 sogar von "künftiger" allgemeiner "Aufhebung des Leibeigenthums" gesprochen: vgl. Nicolas Rügge, Hardissen. Eine lippische Ortsgeschichte, hrsg. vom Lippischen Heimatbund, Ortsverein Lage, Lage 1997, S. 57.
6 Vgl. Dieter Potente, Ländliche Gesellschaft im Zeitalter der Revolution, päd. Diss. Münster 1987, S. 212 ff.
7 Hauptquelle für die folgenden Angaben sind die auf Mikrofiches verfilmten Wüstener Kirchenbücher sowie die Eheprotokolle (L 108 A) im Staatsarchiv Detmold (STAD).
8 STAD, L 83 A, Nr. 12 P 110.
9 Vgl. das Salbuch (Vorläufer des heutigen Katasters) von 1782: STAD, L 101 C 1, Amt Schötmar Nr. 15, S. 1454f (Pauk) und S 1676f. (Tielke).
10 Der 1783 geborene Sohn Johann Friedrich war am 8. Mai 1784 gestorben.
11 Sie wird in der Inschrift als "Anna Margarethe Ilsabein Berndt Pauks" bezeichnet; vgl. Schubert (wie Anm. 2), S. 46.
12 STAD, L 101 C 1, Amt Schötmar Nr. 15 S. 1454f.